Frühkindliche Reflexe bei Säuglingen laufen ohne Beteiligung des Großhirns ab und dienen der Nahrungssuche und -aufnahme sowie dem Selbstschutz. Sie werden mit zunehmender Ausreifung der stammesgeschichtlich jüngeren Strukturen des Zentralnervensystems (Putamen, Nucleus caudatus, Frontallappen und Pyramidenbahn) allmählich unterdrückt. Diese "primitiven" Reflexe werden auch als infantile, Säuglings- oder Neugeborenenreflexe bezeichnet.
Bestimmte Reflexe treten erst mit einem gewissen Reifegrad, das heißt ab einem bestimmten Konzeptionsalter (Alter des Kindes seit der Zeugung) auf. Daher sind sie unabhängig vom Geburtstermin sowohl innerhalb als auch außerhalb des Mutterleibes auslösbar.

In der Neuropädiatrie sind die frühkindlichen Reflexe - oder treffender als Reaktionen bezeichnet (primitive R.) relevant, die in der Zeit der ersten Lebenswochen und -monate physiologisch auftreten. Das Fehlen, Bestehenbleiben (verlängert oder dauernd) oder Seitenasymmetrie weist diagnostisch auf eine zerebrale Störung hin. Hierbei ist dringend zu beachten, daß voreilige Schlüsse zu vermeiden sind, da nicht immer von eindeutig-beobachtbarem Reaktionsverhalten auszugehen ist. Zudem erkennt man beim Vergleich der Übersichten verschiedener Autoren über Zeiträume von Reflexauftreten und -verschwinden durchaus unterschiedliche Zeitangaben.

In der Literatur werden die Begriffe Reflexe und Reaktionen häufig synonym verwendet. Eine Differenzierung ist dennoch hilfreich, denn Reflexe bleiben unveränderbar, Reaktionen werden sich verändern. "Reaktionen sind variabler als ein Reflex" (Berta Bobath).

Nahrungsaufnahme

Suchreflex

Der Suchreflex ist bei der Geburt vorhanden (Erscheinungsalter 30 Wochen) und verschwindet etwa im Alter von 4 Monaten. Der Suchreflex (auch Rootingreflex) unterstützt den Akt des Stillens. Ein Neugeborenes dreht seinen Kopf in Richtung von allem, was seine Wange oder seinen Mund streichelt, und sucht nach dem Objekt, indem es seinen Kopf in immer kleiner werdenden Bögen bewegt, bis das Objekt gefunden ist („Brustsuchen“). Nachdem sich der Säugling daran gewöhnt hat, auf diese Weise zu reagieren (wenn er gestillt wird, etwa drei Wochen nach der Geburt), wird er sich direkt zum Objekt bewegen, ohne es durch die rotierenden Bewegungen zu suchen. Der Suchreflex verschwindet im Laufe des dritten Lebensmonats.

Saug-Schluck-Reflex

Der Saugreflex stellt in Kombination mit dem Schluckreflex sicher, dass das Neugeborene sich an der Brust ernähren kann. Er entsteht in der 36 Schwangerschaftswoche. Bei Berührung des Gaumens fängt das Baby an zu saugen. Wenn dadurch Nahrung in den Mund gelangt, wird diese durch den koordinierten Schluckakt in die Speiseröhre weitertransportiert, wobei dafür gesorgt wird, dass nichts in die Luftröhre läuft. Der Saugreflex wird später durch aktives Saugen ersetzt, wohingegen der Schluckreflex lebenslang erhalten bleibt. Bis zum sechsten Monat ist dieser Reflex normal.

Schutzreflexe

Schutzreflex für die Atmung: In der Bauchlage wird der Kopf zur Seite rotiert. Er ist Voraussetzung für die gefahrlose Drehung in die Bauchlage.

Zudem verfügt das Baby über Nies-, Husten-, Würge- und Blinzel(Lidschluss)reflexe die ein Leben lang bestehen bleiben.

Tonische Reflexe

Diese überwachen die Lage des Körpers im Raum, bestimmen die Stellung der Körperteile zueinander und regulieren die Tonus-Verteilung der gesamten quergestreiften Muskulatur.

Schreitreflex

Die Schreitreaktion oder Schreitautomatismus ist bereits bei der Geburt vorhanden, obwohl Säuglinge in diesem Alter ihr eigenes Gewicht noch nicht tragen können. Wenn das Kind unter den Achseln gehalten wird und mit seinen Fußsohlen eine Unterlage berührt, versuchen es zu gehen, indem es einen Fuß vor den anderen setzt. Die Reaktion erlischt meist bis zum Alter von etwa 3 Monaten.

Steigreflex

Der Steigreflex wird auch Placing-Reaktion genannt. Bei Streichen des Fußrückens unter einer Tischkante erfolgt ein scheinbares Überschreiten durch Flexionsauslösung. Die Reflexantwort besteht in einer Beugung des Beines und des Fußes als ob das Kind eine Stufe hochsteigen wollte. Die Reaktion erlischt im Alter von etwa 6 Monaten.

Rückratreflex

Auch Galant-Reaktion: In Bauchlage erfolgt bei Bestreichen des Rückens neben der Wirbelsäule eine seitliche Krümmung des Rumpfes auf der stimulierten Seite (bis etwa 5/6 Monat).

Handgreifreflex

Bei Berühren der Innenhand erfolgt Faustschluß mit eingeschlagenem Daumen (bis zum Handstütz etwa 4 - 6. Monat).

Fußgreifreflex

Bei Stimulation im Bereich des mittleren Fußballens erfolgt Einkrallen der Zehen (bis zur Fähigkeit des Stützens, etwa 10.- 12. Monat). Der Hand- und Fußgreifreflex wird auch Palmar- bzw. Plantargreifreflex oder Robinson-Reflex genannt. Er ist ab einem Konzeptionsalter von etwa 32 Wochen feststellbar.

Gekreuzter Streckreflex

Der gekreuzte Streckreflex erfolgt, wenn Knie und Hüfte eines Beines passiv gebeugt werden. Das kontralaterale Bein streckt sich dann mit spitzem Fuß aus (bis etwa 2.Monat).

ATNR (asymmetrisch-tonischer Nackenreflex)

Der asymmetrisch tonische Nackenreflex (siehe auch Nackenmuskulatur) wird ausgelöst, indem man den Kopf des Säuglings zur Seite dreht. Als Reflexantwort werden die Gliedmaßen in Blickrichtung gestreckt und auf der Gegenseite gebeugt. Er entsteht ab der 18. Schwangerschaftswoche, erreicht durch den Geburtsvorgang seinen Höhepunkt und bildet sich im 4. bis 6. Lebensmonat allmählich zurück.
Er ist nicht mit der physiologischen Fechterstellung (Teil der Idealmotorik). Hier sind die Schlüsselgelenke Schulter und Hüfte in einer Außenrotationsstellung. Beim ATNR sind diese in einer Innenrotation.

STNR (symmetrisch-tonischer Nackenreflex)

Beim STNR führt die Beugung des Kopfes zur Brust zu einer symmetrischen Beugung der Arme und zur Streckung der Beine. Die Streckung des Kopfes in den Nacken verursacht eine Streckung der Arme und eine Beugung der Beine. Eine der Aufgaben des STNR ist es, den TLR aufzubrechen und dem Kind zu ermöglichen, die Schwerkraft zu überwinden, in den Vierfüßler Stand oder den Katzensitz zu kommen und beide Körperhälften unabhängig voneinander zu benutzen. Der STNR entwickelt sich erst im 6. bis 9. Lebensmonat zu seinem Höhepunkt und wird bereits kurze Zeit später wieder gehemmt.

TLR (Tonischer Labyrinth-Reflex)

Der tonische Labyrinthreflex ist ein primitiver Reflex, der bei neugeborenen Menschen auftritt. Er existiert in 2 Richtungen.

  1. Das Zurückkippen des Kopfes in der Rückenlage führt dazu, dass sich der Rücken versteift und sogar nach hinten wölbt, die Beine sich strecken, versteifen und zusammenschieben, die Zehen spitzen, die Arme an den Ellenbogen und Handgelenken beugen und die Hände zur Faust werden oder die Finger sich krümmen. Oder anders: Bei Extension (Streckung) der HWS erfolgt eine Extension des gesamten Körpers. Ab dem 3. Monat beginnt er schwächer zu werden.
  2. Durch eine Neigung des Kopfes nach vorne (TLR vorwärts) kommt es zu einer Ganzkörperbewegung, die in ihrem Muster nach der Fötalen Beugehaltung entspricht. Oder anders: Bei Flexion (Beugung) der HWS erfolgt eine Flexion des gesamten Körpers. Er entsteht um die 12. SSW.

Das Vorhandensein des TLR sowie anderer primitiver Reflexe wie z. B. des asymmetrischen tonischen Nackenreflexes (ATNR) über die ersten sechs Lebensmonate hinaus kann darauf hinweisen, dass das Kind Entwicklungsverzögerungen und/oder neurologische Anomalien hat. Bei Menschen mit Zerebralparese können die Reflexe beispielsweise fortbestehen und sogar stärker ausgeprägt sein. Als abnorme Reflexe können sowohl der tonische Labyrinthreflex als auch der asymmetrische tonische Nackenreflex Probleme für das heranwachsende Kind verursachen. Sowohl der TLR als auch der ATNR behindern funktionelle Aktivitäten wie das Rollen, das Zusammenführen der Hände oder sogar das Heranführen der Hände an den Mund. Im Laufe der Zeit können sowohl die TLR als auch die ATNR ernsthafte Schäden an den Gelenken und Knochen des heranwachsenden Kindes verursachen, was dazu führt, dass der Oberschenkelkopf teilweise aus der Hüftpfanne herausrutscht (Subluxation) oder sich vollständig aus der Hüftpfanne bewegt (Luxation = Verrenkung).

Moro (Schreck-Reflex)

Die Reizantwort bei der Moro-Reaktion besteht aus einem komplexen Bewegungsmuster. Sie wird ausgelöst, wenn der Kopf des Säuglings plötzlich die Position wechselt, die Temperatur sich abrupt ändert oder er durch ein plötzliches Geräusch aufgeschreckt wird. Er ist sozusagen ein Umklammerungsreflex und soll u.a. verhindern, dass das Neugeborene bei plötzlichen Lageveränderungen der Bezugsperson herunterfällt.

Phase 1: Kopf geht nach hinten, Arme nach außen, Hände auf (Mund öffnet), Rumpfstreckung

Phase 2: Umklammerung, Beugung, Tonussenkung, Arme nach vorne, Hände zu Fäusten geballt, lautes schreien

Bei Frühgeborenen ist die 2. Phase kaum bis gar nicht zu beobachten, während reife Neugeborene (also ab der 37. Woche) auch diesen sehr stark ausgeprägt haben. Er ist ab der 9. Schwangerschaftswoche nachweisbar und verschwindet etwa bis zum 4. Lebensmonat.

Stellreaktionen

Die Stellreaktionen lösen im allgemeinen die tonischen Reflexe ab, mit ihrer Hilfe wird das Kind befähigt, Lage und Bewegungen des Kopfes, des Rumpfes und der Extremitäten der Schwerkraft entsprechend einzustellen. Diese automatischen Richtreaktionen sind Voraussetzung für die Entwicklung der aufrechten Körperhaltung und der Fortbewegung (Sitzen, Gehen und Stehen).

  • Aufziehreaktion: Aus der Rückenlage werden die distalen Unterarmabschnitte und ggf. die Handgelenke so umffaßt, daß die Daumen in der Innenhand liegen, Mittelhand und Fingergrundgelenke aber frei bleiben. Dann ist abzuwarten, bis die Arme in Flexionsstellung gehen, dann wird ein Zugimpuls in Richtung Sitz gesetzt (Gegenspannung muß vorhanden sein). Es bewirkt das Abheben des Kopfes und des Oberkörpers von der Unterlage. Die Kopfbewegung und das Freiliegen der Beine muß beachtet werden (bildet sich ab dem 6. Monat aus).
  • Hals-Stellreaktion: Sie bewirkt eine Ausrichtung des Rumpfes an der Kopfstellung oder eine Korrektur des Kopfes bei Rumpfdrehung. Dreht man den Kopf z.B. in Rückenlage zur Seite, folgt der gesamte Körper dieser Drehbewegung bis zur Seitlage. Dieser Reflex ergibt sich aus der propriozeptiven Stimulation der Nackenmuskulatur.
  • Körper-Stellreaktion: Bei allen seitlichen Rollbewegungen kommt es zur schraubenförmigen Bewegung des Körpers. So bewirkt z.B. Übereinanderschlagen und Rollen der Beine das Nachkommen der Schulter. Ein Andeuten einer Rumpfdrehung aus der Rückenlage durch Rumpffixierung im Gabelgriff und leichter Druck in Richtung der Unterlage bei leichtem Schub in Rotationsrichtung bewirkt Drehung des Kopfes, Drehen des Armes und schließlich folgen schraubenförmig die Wirbelsäule, das Becken und (mit Flexion) das Bein (bildet sich ab dem 7. Monat aus).
  • Labyrinth-Stellreaktion: Sie dient der Aufrichtung des Kopfes gegen die Schwerkraft, d.h. bei Veränderungen der Kopf- und Körperstellung im Raum wird reflektorisch der Kopf in Normalstellung = Mittelstellung, der Scheitel zeigt nach oben, Mundspalte und Augenlinie stehen waagerecht. Diese Kopfkontrolle ist wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der Aufrichtung (ab dem ersten Lebenstag).
  • Landau-Reflex: Wird das Kind in Bauchlage am Rumpf frei schwebend horizontal gehalten, so hebt es zuerst den Kopf, dann folgt eine tonische Streckung der Wirbelsäule und der Beine. Wird nun der Kopf passiv gebeugt, so beugen sich auch Rumpf und Beine (ab dem 5. Monat erste Anzeichen).
  • Positive Stützreaktion der Beine: Bei Berührung des Fußballens mit der Unterlage verwandelt sich das Bein in eine starre, belastungsfähige Säule, ein Teil des Körpergewichts kann übernommen werden = Stehbereitschaft (bildet sich ab dem 6. Monat aus).
  • Optische Stellreaktion: Sie bewirkt (wie die Labyrinth-Stellreaktion) unter Augenkontrolle die Einstellung des Kopfes. Das Gesicht wird unabhängig von der Körperhaltung in eine vertikale Position gebracht.

Statokinetische Reflexe

Die Statokinetische Reflexe sind während des ganzen Lebens auslösbar. Sie bewirken die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes, wenn der Körper passiv aus der Mittelstellung verlagert wird, indem der Stütztonus zunimmt, der der einwirkenden Kraft entgegenwirkt. Sie bilden sich ab dem 7. Monat aus und sollen ab dem 12. Monat voll vorhanden sein.
  • Schunkelreaktion: Das Kind sitzt mit freihängenden Beinen. Beim seitlichen Anstoßen am Rumpf werden Kopf und Beine in die Gegenrichtung bewegt. Ebenso kann hierbei die Stützreaktion für die Arme ausgelöst werden.
  • Sprungbereitschaft: Das Kind wird freischwebend in Bauchlage gehalten. Wird es der Unterlage angenähert, so streckt es seine Arme schützend und stützend dieser entgegen.
  • Stemmreaktion: Das Kind stemmt sich im Sitzen mit dem Rumpf gegen den von vorne, hinten oder von der Seite einwirkenden Druck.
  • Stützreaktion: Sie wird im Stand durch Stoß von vorn, von hinten oder von der Seite ausgelöst. Die reaktive Sicherung erfolgt durch Aufsetzen des meist gestreckten Beines in Druckrichtung.

 

Schmerzen & Verletzungen